© iStock/RolfSt Glaube, Gesellschaft und Politik: Wie Religion die USA prägt
In kaum einem westlichen Land spielt Religion eine so zentrale Rolle im öffentlichen Leben wie in den Vereinigten Staaten. Ob in der politischen Rhetorik, bei Wahlentscheidungen oder im gesellschaftlichen Engagement – der Glaube ist tief verwurzelt im amerikanischen Selbstverständnis. Doch wie passt das mit der verfassungsmäßigen Trennung von Staat und Kirche zusammen? Welche Bedeutung hat die sogenannte Zivilreligion? Und wie beeinflussen religiöse Überzeugungen politische Entscheidungen? Ein Interview aus dem Jahr 2016 mit Klaus Stüwe, Politikwissenschaftler und Vizepräsident der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, der sich seit Jahren mit dem politischen System der USA beschäftigt. Ein aufschlussreicher Blick auf die religiöse Seele Amerikas – gerade in bewegten politischen Zeiten.
Welche Rolle spielt Religion für die Gesellschaft in den Vereinigten Staaten? Ist Amerika religiöser als Europa?
Klaus Stüwe: Die Vereinigten Staaten sind nach wie vor ein sehr religiöses Land. Während die Religiosität in vielen anderen westlichen Ländern kontinuierlich abnimmt, blieb die Bedeutung des Glaubens in den USA viele Jahrzehnte stabil bzw. nahm nur geringfügig ab. Nach aktuellen Umfragen sind 77 Prozent der US-Bevölkerung Mitglieder einer Religionsgemeinschaft, und selbst 61 Prozent derjenigen, die nicht einer Religionsgemeinschaft angehören, glauben an Gott. 53 Prozent der Erwachsenen sagen, dass Religion ein sehr wichtiger Faktor in ihrem Leben ist. Und 36 Prozent der US-Bürger besuchen mindestens einmal pro Woche einen Gottesdienst. Religion ist nicht nur ein wichtiges Element in der persönlichen Lebensgestaltung der meisten US-Bürger, sondern auch ein bedeutender Faktor im gesellschaftlichen und politischen Raum. Millionen Gläubige aller Konfessionen wirken in zahllosen kirchlichen Freiwilligenorganisationen mit, um sich sozial oder kulturell zu engagieren. Zwar lassen sich auch in den USA gewisse Veränderungen beobachten – so sind z.B. die Religiosität und der Grad der Kirchenbindung bei den Jüngeren niedriger als im Bevölkerungsdurchschnitt –, aber im internationalen Vergleich bleiben die Vereinigten Staaten eines der religiösesten Völker der Welt.
Auch wenn laut Verfassung die USA ein säkularer Staat sind, wie kam es dazu, dass sich die amerikanische Zivilreligion entwickelt hat?
Klaus Stüwe: Religion und Politik sind in den Vereinigten Staaten keine völlig voneinander isolierten Sphären. Im Gegenteil: Trotz dem aus der Verfassung abgeleiteten Gebot der Trennung von Staat und Kirche spielen religiöse Rituale, Symbole und Metaphern auch im politischen Raum eine bedeutende Rolle. US-Präsidenten leisten ihren Amtseid in Anwesenheit eines Geistlichen, indem sie ihre Hand auf die Bibel legen. Keine Rede eines Politikers endet ohne das obligatorische „God bless America!“. In den Reden der Präsidenten fallen oft die religiös besetzten Begriffe „faith” (Glaube) oder „creed” (Credo). Dies ist Ausdruck eines metaphorischen Prozesses der Übertragung religiöser Ausdrucksweisen auf die politische Sphäre. Der Soziologe Robert N. Bellah prägte dafür den Begriff einer christlich fundierten amerikanischen „Zivilreligion”. Die Vorstellung einer „Nation unter Gott” („one nation under God“) soll für die Bürger identitätsstiftend wirken: Religiöse Metaphern werden eben von einem religiösen Volk auch verstanden. Zivilreligiöse Rituale und Symbole sind demnach nicht etwa Ausdruck der individuellen Religiosität von Politikern, sondern sie reagieren damit auf die religiöse Grundhaltung vieler Amerikaner.
Wie sieht das Verhältnis zwischen den christlichen Kirchen und der Politik/dem Staat aus? Welche Rolle kommt dem christlichen Bürger im Staat zu? Welchen realen Einfluss haben religiöse Gruppen auf politische Entscheidungen?
Klaus Stüwe: Die religiöse Landschaft der USA ist sehr fragmentiert. Die Protestanten umfassen zwar zusammengenommen fast zwei Drittel aller Christen in den USA. Sie sind jedoch keineswegs eine geschlossene Religionsgemeinschaft, sondern untergliedern sich in viele einzelne Kirchen und Denominationen. Konservative evangelikale Protestanten unterscheiden sich von liberaleren „Mainline“-Kirchen. Die katholische Kirche bildet zwar mit knapp 21 Prozent der Bevölkerung die größte christliche Konfession, aber auch die Katholiken sind keineswegs eine homogene Gruppe. Das Kirchenverständnis irisch- und polnisch-stämmiger oder hispanischer Katholiken erweist sich bei näherem Hinsehen durchaus als recht verschieden. Schon aus diesem Grund sprechen die christlichen Kirchen keineswegs mit einer Stimme, wenn es um politische Fragen geht. Aufgrund ihrer verhältnismäßig großen Gefolgschaft sind jedoch die evangelikalen Christen auch eine relevante politische Größe. Der politische Arm der Evangelikalen, die „Christliche Rechte“ , ist in öffentlichkeitswirksamen Interessenorganisationen wie der Christian Coalition of America organisiert und erreicht damit einen Großteil der Bevölkerung, insbesondere in den Staaten des „Bible belt“ vom Südosten bis zum Mittleren Westen der USA. Evangelikale Anschauungen spielten vor allem während der Präsidentschaft von George W. Bush eine gewisse politische Rolle innerhalb der Republican Party. Aufgrund der Befürwortung eines Abtreibungsrechts und der gleichgeschlechtlichen Ehe ist hingegen die Democratic Party für viele konservative religiöse US-Bürger nicht mehr wählbar. Vor allem Katholiken, die früher traditionell die Demokraten wählten, sind heute vielfach Anhänger der Republikaner.
Warum tritt bei diesem Wahlkampf um die Präsidentschaft Religion eher in den Hintergrund, obwohl vielleicht doch eine Mehrheit der Amerikaner wissen möchte, welche religiöse Überzeugungen und moralischen Vorstellungen die Kandidaten haben?
Klaus Stüwe: Explizit religiöse Themen haben in US-Wahlkämpfen noch nie eine Rolle gespielt. Dies liegt daran, dass die Verfassung ausdrücklich die Freiheit der Religionsausübung garantiert und die Einführung einer Staatsreligion verbietet. Schon in der frühen Republik wurde dieses Verfassungsgebot so interpretiert, dass es eine klare Trennung zwischen den Sphären der Politik und der Religion geben müsse. An diese Regel halten sich alle politischen Kandidaten und Kandidatinnen. Niemand will in Verdacht kommen, die Trennung von Staat aufheben zu wollen. Der erste Katholik im Präsidentenamt, John F. Kennedy, musste sogar ausdrücklich betonen, dass er nicht auf Weisung des Papstes handeln werde. Allenfalls implizit, durch ihre Haltung zu bestimmten Fragen, die für die Wertvorstellungen von Christen von Bedeutung sind, wie Familienwerte, Abtreibung oder Bioethik, berühren Präsidentschaftskandidaten auch religiöse Überzeugungen. Genau aus diesem Grund sind viele konservative Christen im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf mehr als frustriert: Weder Hillary Clinton, noch Donald Trump vertreten Positionen, die mit ihren Überzeugungen übereinstimmen.
Wie wichtig ist den Wählerinnen und Wähler, dass der Präsident ein religiöser, gläubiger Mensch ist?
Klaus Stüwe: Erst kürzlich hat eine Umfrage des Pew Research Centers herausgefunden, dass die Hälfte der US-Bürger nicht für einen Kandidaten stimmen würde, der Atheist ist. Nach wie vor sind die meisten Amerikaner davon überzeugt, dass ein guter Präsident (oder eine Präsidentin) einen starken persönlichen Glauben haben müsse. Weder Donald Trump noch Hillary Clinton gelten freilich als besonders religiös …
Sind die Worte “God bless America”, “In God we trust”, “One nation under God” oft nur Floskeln oder kommen sie doch aus den Herzen der Menschen? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Klaus Stüwe: Im internationalen Vergleich sind die US-Amerikaner tatsächlich religiöser als andere Völker. Aus diesem Grund ist es für die meisten US-Bürger selbstverständlich, mit diesen Formeln auf die christlichen Fundamente ihrer politischen Kultur hinzuweisen. Allerdings wirkt es bei vielen Politikern eher floskelhaft und ritualisiert, wenn sie am Ende jeder Rede sagen: „God bless America“. Wie anderswo, kann man auch in den USA nicht immer davon ausgehen, dass mit religiöser Sprache auch entsprechendes politisches Handeln verbunden ist.
